Es hörte sich an wie ein Abzählreim zum Haare-Raufen: erst zwang der GDL-Streik Unternehmen ihre Waren von der umweltfreundlichen Bahn auf die Straße zu verlagern, fast zeitgleich kam ein Warnruf aus Chinas zweitgrößten Containerhafen nach Shanghai. Am Ningbo Zhoushan wurde ein Terminal geschlossen, nachdem ein Hafenmitarbeiter positiv auf Covid getestet wurde. 28 Containerschiffe lagen in Warteposition, keiner wusste so recht, wie es weitergeht. Welche Auswirkungen das auf Lieferketten hat, wurde bereits klar, als im Mai und Juni der Handelshafen Yantian zeitweise geschlossen wurde. Das sei schlimmer gewesen als die Blockade des Suezkanals. Auch für Mittelständler war hier die Verschiebung der letzten 18 Monate deutlich zu spüren. Dass es Engpässe und Lieferprobleme für Stahl, Kunststoffe und Halbleiter gibt, hat vor fünf Jahren wohl noch keiner mitbedacht, als er seine Supply Chain strukturiert hat. Hinzu kommen – als neuer unkalkulierbarer Posten – die Frachtraten: so teuer wie nie zuvor und die Lieferverspätung ist quasi im Preis inbegriffen. Zur Veranschaulichung: Laut einem aktuellen Bericht des manager magazins kostete der Transport eines 40-Fuß-Standard-Containers von China nach Europa noch vor einem Jahr weniger als 2.000 Dollar, jetzt sind es mehr als 13.000 US-Dollar. Obendrein fehlen immer wieder Arbeitskräfte aufgrund der Reiserestriktionen.
Noch keine Besserung in Sicht
Wann wird das besser? Das hat auch der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME) im Juni seine Mitglieder gefragt. Die aktuellen Umfrageergebnisse zeigen auf, dass über 62% der Mitglieder damit rechnen, dass es vor Ende 2022 keine Entspannung der Rohstoffknappheit geben wird, über 80% sehen die aktuelle Versorgungssituation als insgesamt kritisch an. Konzerne mit komplexen Lieferstrukturen kalkulieren grundsätzlich Lieferkettenstörungen ein. Bei Daimler und BMW sind das laut Geschäftsbericht 1,5 bis 2 Milliarden Euro im Jahr, so schreibt das Magazin Finance.
Und in welcher Schublade liegt der Krisenplan? Ja, es gibt welche, für den Fall, dass das Zentrallager abbrennt oder kritische Stoffe austreten, ein Hackerangriff – alles Fälle, die in der Corona-Situation nicht wirklich weiterhalfen.
Einige Unternehmen konnten schneller reagieren, sie waren zwar auch nicht unbedingt auf dieses Ausmaß vorbreitet, aber hatten zumindest eine Systematik, die gewährleistete, dass relativ schnell Schwachstellen ausgeglichen werden konnten, sodass die Verluste deutlich weniger drastisch waren. Resilienz in der Supply Chain ist längst nichts neues mehr, wird jedoch von viel zu vielen Unternehmen nicht ernst genug genommen. Dass sich dies nun schlagartig ändern muss und wird, zeigt eine umfassende Untersuchung des Capgemini Research Institutes vom November.
Reaktionszeiten müssen deutlich kürzer werden
Die zentrale Frage war: Wie gut sind Unternehmen darauf vorbereitet, wenn wieder eine derartige globale Krise auftritt? Es wurden global 1.000 Firmen befragt, wie schnell und gut sie sich auf die neue Situation einstellen konnten. Das Ergebnis zeigt, wie groß der wirtschaftliche Schaden durch die Disruption der Lieferketten war: Nur 1 Prozent der Befragten konnten innerhalb von weniger als 2 Wochen auf die neuen Anforderungen reagieren. Gut 55 Prozent benötigten 3 bis 6 Monate, ganze 13 Prozent sogar bis zu einem Jahr. Von den befragten deutschen Unternehmen gaben 60 Prozent an, dass sie ihre Supply Chain Strategie signifikant ändern müssen, um anpassungsfähig zu bleiben.
Denn die große Frage bleibt offen: Wie sieht die neue Post-Covid-Normalität tatsächlich aus? Die Antwort darauf weiß derzeit kaum einer, denn aktuell lautet die Devise: wir hangeln uns von Moment zu Moment, von Auftrag zu Auftrag.
Wer abhängig von kritischen Rohstoffen ist, muss plötzlich mit einer Angebotsgültigkeit von Stunden statt Tagen rechnen, was etwa Automobilzulieferer ganz schön ins Schwitzen bringt, denn in der Automobilbranche kennt man wenig Verständnis für Verzögerungen und die Ansprüche sind hoch. Eine Kalkulation mit spitzer Feder kann sich da kaum mehr einer leisten, das Risiko des Minusgeschäfts wird pragmatisch billigend in Kauf genommen; Hauptziel ist es, das Geschäft in-time abzuwickeln, um den Kunden zu behalten.
Rettungsring Resilienz
Auch wenn viele Hersteller und Zulieferer große Innovationskraft gezeigt haben, indem sie ihr Produktsortiment ausgeweitet und an den neuen Bedarf angepasst haben, gleicht das die Lücken nicht vollständig aus. Zu viele Bereiche wurden bereits in der Planung vernachlässigt, um den Status einer resilienten Supply Chain zu erreichen.
Der „Rettungsring“ Resilienz für die Supply Chain soll das verhindern, was viele gerade erlebt haben. Schon prä-Covid war Resilienz darauf ausgerichtet, die Lieferketten beim Eintreten von Unvorhersehbarem, wie Naturkatastrophen oder Unfällen zu schützen, sodass sie sich ihre Aktionsfähigkeit bewahren und den Schaden somit minimieren.
Das Grundprinzip basiert auf der Verknüpfung von Agilität, Diversität, Transparenz und Redundanz als ein permanenter Lernprozess, der übergreifend für Personal, Lager, Equipment, Netzwerk und Partner gilt. Das bedeutet, dass die klassischen Managementmethoden des Risikomanagements, der Betrieblichen Katastrophenschutz-Organisation und des Business Continuity Managements nun als ineinander greifend betrachtet und strategisch verknüpft werden müssen.
Agilität und Transparenz
Agile Personalplanung ist nur eines der Schlagwörter, voraus berechnete Kapazitätsreserven decken saisonale Schwankungen und über die Skill-Matrix steht eine zusätzliche Agilitätsreserve zur Verfügung. In der IT wird Resilienz vor allem durch redundante Strukturen gesichert.
Auch das Lagermanagement muss neu geplant werden, wobei hier tatsächlich um die Ecke gedacht werden muss. Denn Dezentralisierung, Diversifikation und Regionalisierung finden gleichzeitig statt. Wer kann, sucht sich Zulieferer aus dem eigenen Land. Das gaben 64 Prozent der deutschen Unternehmen an. Der Lieferantenpool wird breiter aufgestellt, um Abhängigkeiten zu vermeiden. So werden auch bestehende und geplante Standorte unter ganz anderen Gesichtspunkten neu gedacht.
Aber über allem steht die Forderung nach mehr Transparenz. Das geht weit über den Faktor end-to-end-costs hinaus. Data-Sharing mit dem Netzwerk spielt dem Frühwarnsystem zu, sodass Störfaktoren wie Hafenstreiks oder eine Unwetterkatastrophe sofort berücksichtigt werden können. Ausgereifte Algorithmen berechnen, wer aus dem Lieferantennetzwerk den zu erwartenden Ausfall substituieren kann und was verfügbare Lagerkapazitäten decken. So kann operativ, auch bei unvorhergesehenen Zwischenfällen, proaktiv gehandelt werden. An dem Punkt zeigt sich aber auch, dass vielerorts die Digitalisierung vernachlässigt wurde. So wäre etwa die Etablierung eines digitalen Zwillings der Lieferkette die ideale Grundlage, um Risiken und Störvorfälle zu simulieren und die damit einhergehend Planungsszenarien durchzuspielen.
Ein Investment in resiliente Lieferketten mag jetzt erst einmal schmerzhaft sein, aber wer sich zukunftssicher aufstellen will, wird nicht darum herumkommen. In dem Punkt sind sich die Experten einig.
Erwarte das Undenkbare – so ähnlich könnte man die Leitstrategie für die Planung von morgen beschreiben.
Wie kann die nahe Zukunft aussehen und wie hilft Supply-Chain-Resilienz dabei? In Teil 2 lesen Sie dazu das Interview mit Prof. Dr. Stefan Recknagel, Vice President Part Logistics BSH Hausgeräte GmbH. Er ist u.a. Dozent an der technischen Fakultät der privaten Hochschule EurAka und Preisträger des European Award for Logistics Excellence.